Kann Stottern durch die Induktion von plastischen Veränderungen im Gehirn geheilt werden?

Kathleen Henriksen, M.D.
Notaufnahme, Ullevål University Hospital, 0407 Oslo, Norwegen

Eirik Solheim M.D.
Sørlandet Krankenhaus, 4809 Arendal, Norwegen

Hilda Sønsterud
Sprech- und Sprachpathologe, Oslo, Norwegen

Greg Jablonski, M.D., Ph.D.
Ohrenchirurg
Abteilung für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, ØPO-klinikken,
Rikshospitalet Universitätsklinik und Universität Oslo
N-0027 Oslo, Norwegen

Espen Dietrichs, M.D., Ph.D.
Professor für Neurologie, Leiter der Abteilung
Abteilung für Neurologie
Zentrum für klinische Neurowissenschaften
Rikshospitalet Universitätskrankenhaus und Universität Oslo
N-0027 Oslo, Norwegen

Dies ist die englische Übersetzung eines Artikels, der im Oktober 2007 in der Norsk Tidskrift for Logopedi veröffentlicht wurde.

Es ist bekannt, dass einige Stotterer eine spontane Verbesserung ihres Redeflusses erfahren können, wenn sie im Chor oder mit Gesang sprechen, ein so genannter Choreffekt. Wir sind der Überzeugung, dass es möglich ist, einen dauerhaften Redefluss zu erreichen, wenn technische Interventionen gegen das Stottern oder gemäßigte Sprechen eingeleitet werden, während das Gehirn noch plastisch ist, d.h. vor dem Alter von 7 Jahren, da sich das Gehirn neu moduliert, um dysfunktionale Nervenbahnen zu umgehen. Diese Hypothese basiert auf dem bedeutenden Potenzial des Gehirns für plastische Veränderungen und der logischen Ableitung aus der empirischen Behandlung von Astigmatismus.

Hintergrund

Die geschätzte Prävalenz des Stotterns in der erwachsenen Bevölkerung liegt zwischen 0,7 und 1%. Stottern kann eine erhebliche soziale Beeinträchtigung darstellen. Traditionell wird es von Sprachpathologen und Psychologen diagnostiziert und behandelt. Stottern ist eine komplexe neuro-motorische Sprachstörung, für die oft eine genetische Veranlagung besteht. Wesentliche Merkmale des Stotterns sind Blockaden mit Luft- und Lautpausen, Wiederholungen von Lauten oder Silbenverlängerungen. Der Konsens hat das Stottern als Prozentsatz der Redeflussstörung pro hundert Wörter definiert, wobei 5 % ein leichtes Stottern darstellen, während 12 % oder mehr als schwerer Zustand gelten. (Guitar 2006) Mit essentiellem Stottern ist gemeint, dass das Stottern die grundlegende Funktionsstörung ist und nicht ein Symptom einer anderen Krankheit.

Es ist seit der Antike bekannt, dass körperliche Manipulationen während des Stotterns die Stotterhäufigkeit beeinflussen können. Es ist überliefert, dass Demosthenes (384-322) sich als Junge vom Stottern heilte, indem er mit Kieselsteinen im Mund sprach. In den 1960er Jahren wurde entdeckt, dass bei einem Teil der stotternden Bevölkerung eine Remission eintrat, wenn sie einem verzögerten auditorischen Feedback (DAF) ausgesetzt wurden. In der Folge wurden viele Geräte entwickelt, die eine DAF-Therapie ermöglichen. Wir werden dies als technische Intervention bezeichnen. Bei der technischen Intervention wird der Patient mit einem Gerät ausgestattet, das ein Echo der eigenen Stimme mit einer Verzögerung von 50 bis 200 ms erzeugt. Um zu verhindern, dass sich im Laufe der Zeit ein Widerstand entwickelt, wird die Frequenz der eigenen Stimme des Patienten von +/- 1000 Hz auf 500 Hz nach oben oder unten angepasst. Dies wird als frequenzverändertes Feedback (FAF) bezeichnet. Wie viel Prozent der Patienten auf die Wirkung von DAF/FAF ansprechen, ist noch nicht ausreichend dokumentiert. DAF/FAF wurde und wird jedoch in der Stottertherapie eingesetzt.

Bestehende Hypothesen

Foundas (2004) ist der Meinung, dass Menschen, die stottern, einen auditiven Wahrnehmungsfehler haben. Sie postuliert, dass die Manipulation des Hörsignals mit DAF/FAF den Grad der Geläufigkeit bei einigen Stotterern beeinflussen kann: Das auditorische System, zumindest auf der Ebene des auditiven Inputs, ist bei beiden Bedingungen, die zum Stottern führen, beteiligt. Es könnte also ein Defekt auf der Ebene der auditiven Verarbeitung vorliegen, der durch diese Verfahren zumindest teilweise rückgängig gemacht wird. (Foundas et al, 2004, s.1640)

Van Riper beschrieb das Stottern als Folge einer Desynchronisation der sequentiellen motorischen Sprechbewegungen (Guitar 2006). Kann dies eine Folge eines Defekts der auditiven Wahrnehmung oder einer Funktionsstörung der Basalganglien sein?

Im Jahr 1991 schlug G. Goldberg eine Hypothese vor, die grob vereinfacht besagt, dass es zwei Wege gibt, die für die Initiierung der motorischen Aktivität genutzt werden können. Das duale System besteht aus einem medialen Trakt, der die Basalganglien umfasst, und einem lateralen Trakt, der das Kleinhirn einschließt. Die laterale Bahn umfasst die prämotorische Großhirnrinde, das Kleinhirn und die Verbindungen zwischen ihnen. Die Hypothese besagt, dass die Seitenbahn bei bewussten koordinierten Bewegungen aktiviert wird. Die Aktivierung dieses lateralen Trakts kann bei der Verringerung von Symptomen hilfreich sein, die durch eine Funktionsstörung des medialen Trakts, der Basalganglien, zum Beispiel bei der Parkinson-Krankheit, verursacht werden. (Goldberg, 1991) Alm (2004) hat eine weitere Hypothese zur Ätiologie des Stotterns aufgestellt: „Die zentrale Dysfunktion beim Stottern ist vermutlich die gestörte Fähigkeit der Basalganglien, zeitliche Hinweise für die Einleitung des nächsten motorischen Segments beim Sprechen zu geben. (Alm, 2004, s.325)

Nach Foundas (2004) und Alm (2004) kann man das Gehirn dazu veranlassen, Bahnen zu verschieben, indem man das auditorische Feedback verändert. Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Strukturen und ihre Rolle in der Pathogenese des Stotterns sind noch weitgehend unbekannt. Dennoch scheint es sinnvoll, die Hypothese von Goldberg (1991) über laterale versus mediale Bahnen als Arbeitsmodell für das Stottern zu verwenden. (Alm 2004) Wenn der Fehler tatsächlich im medialen Trakt/Basalganglien auftritt, kann man durch Aktivierung des lateralen koordinierten Trakts den „fehlerhaften Schaltkreis“ umgehen. In einem solchen System wäre es naheliegend, flüssigeres Sprechen zu beobachten und damit die Grundlage für das Verständnis der therapeutischen Wirkungen von chorischem Lesen und auditivem Feedback (DAF/FAF) zu schaffen. Unter flüssigem Sprechen verstehen wir eine gleichmäßige, rhythmische und nicht angestrengte Sprachproduktion (Lind 2004).

Radiologie

Ein gewisses Maß an Unterstützung für Alms Theorie findet sich in einer kürzlich durchgeführten funktionellen Magnetresonanztomographie-Studie (fMRI) an 16 erwachsenen Stotterern. Die Bilder wurden vor und nach der Kasseler Stottertherapie aufgenommen (Giraud et al., 2007). Vor der Behandlung wiesen die Patienten eine erhöhte Aktivität in einem Teil der Basalganglien (Nucleus caudatus) auf, während diese Aktivität nach erfolgreicher Behandlung nicht mehr vorhanden war.

Mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomographie (PET)-Technologie konnte eine Reihe von ätiologischen Hypothesen zum Stottern unterstützt werden:

– Fehlende Entwicklung der Dominanz der linken Hemisphäre.

– Hyperaktivität der rechten Hemisphäre.

– Deaktivierung des frontal-temporalen Systems, das an der Sprachproduktion beteiligt ist.

– Hyperaktivität der motorischen Systeme.

Die Hyperaktivität konnte durch die Verwendung von Chorgesang signifikant reduziert werden. Darüber hinaus kam es zu einer entsprechenden Reaktivierung der deaktivierten frontal-temporalen Systeme. (Fox et al, 1996).

In Anbetracht der Tatsache, dass ein PET-Scan ein Bild der Stoffwechselaktivität über einen bestimmten Zeitraum hinweg darstellt, halten wir funktionelle Befunde der oben genannten Art für wenig geeignet, um die Ätiologie des Stotterns zu verstehen. Die Zeit, die vom Auftreten der Störung bis zur Aktivierung zusätzlicher Mechanismen vergeht, ist so kurz, dass es mit der heutigen Technologie wahrscheinlich unmöglich ist, den tatsächlichen Zeitpunkt der Störung zu ermitteln. Die Frage ist also: Welche der beobachteten Veränderungen stellen den Fehlerpunkt dar und welche die sekundären Kompensationsmechanismen des Gehirns?

Dr. Chang (Schonfeld , 2007) hat sowohl bei stotternden Kindern als auch bei Erwachsenen eine Verringerung der weißen Substanz in den Bereichen beobachtet, die die frontale motorisch-sprachliche Region und die Sprachverständnisregion verbinden. Dr. Chang äußerte in Ped News (Januar 2007, s.34) folgende Gedanken):

‚Erwachsene, die stottern, zeigen dieselben Traktanomalien wie Kinder, weisen aber auch eine Asymmetrie des Volumens der grauen Substanz auf, was darauf hindeutet, dass die Befunde der grauen Substanz bei Erwachsenen neuroplastische Veränderungen widerspiegeln, die auf ein lebenslanges Stottern zurückzuführen sind.

Dies ist insofern ein bedeutender Befund, als er eine Einführung der plastischen Veränderung des Gehirns in die Pathologie des Stotterns darstellt.

Kann eine Therapie eine plastische Veränderung bewirken?

Im Rahmen der klinischen Erprobung eines DAF/FAF-Geräts beobachteten Henriksen und Solheim eine technisch bedingte Spontanremission bei einem schwer stotternden Patienten. Der Test wurde unter kontrollierten Bedingungen im Rikshospital in Oslo, Norwegen, am 4. November 2003 durchgeführt. Unter großer akademischer Skepsis fragen wir: Kann eine solche Remission in manchen Fällen dauerhaft sein?

In den letzten Jahren haben wir gelernt, dass das Gehirn über ein enormes Potenzial für plastische Veränderungen während des gesamten Lebens verfügt, sowohl als Ergebnis normalen Lernens als auch der Restitution nach Verletzungen (siehe Dietrichs, 2007 für einen Überblick). Dennoch hat das Gehirn in den ersten Lebensjahren sein größtes Potenzial für plastische Veränderungen. In diesen Jahren werden alle wichtigen Nervenbahnen voll entwickelt und die nicht genutzten allmählich abgebaut. Dieser Prozess der Remodulation wird in der klinischen Medizin genutzt, zum Beispiel bei der Behandlung von Kindern mit Astigmatismus. Die Behandlung umfasst eine Periode, in der abwechselnd ein Auge mit und ein Auge ohne Lidschluss geklebt wird, so dass das Kind lernt, beide Augen zu benutzen. Es wird empfohlen, dies vor dem 7. Lebensjahr zu tun, um eine optimale Wirkung zu erzielen. Andernfalls unterdrückt das Gehirn oft das Sehen und baut die Sehbahn des schielenden Auges ab, was zur Erblindung führen kann.

Auf der Grundlage des derzeitigen Wissens über das enorme Potenzial des Gehirns für plastische Veränderungen und der logischen Ableitung aus der empirischen Behandlung von Astigmatismus haben Henriksen und Solheim die folgende Hypothese entwickelt: Wenn eine technische Intervention gegen das Stottern eingeleitet wird, während sich das Gehirn in seiner plastischsten Phase befindet (vor dem siebten Lebensjahr), kann es möglich sein, einen anhaltenden Redefluss zu induzieren, auch nachdem das Gerät entfernt wurde. Sie haben ferner die Theorie aufgestellt, dass die technische Intervention mit DAF/FAF durch die Blockierung des dysfunktionalen medialen motorischen Trakts bei gleichzeitiger Aktivierung des lateralen Trakts funktioniert. Auf diese Weise würden die dysfunktionalen Bahnen während der Behandlung abgebaut werden. Theoretisch könnte dies zu einem dauerhaften, durch das laterale System vermittelten Redefluss führen.

Eine parallele Hypothese könnte für die Bewertung der Wirkung des Lidcombe-Programms aufgestellt werden. Ein wichtiges Element des Programms ist die aktive Beteiligung der Eltern an der Intervention. Die Eltern werden angewiesen, dem Kind direktes Feedback zu geben (innerhalb sehr spezifischer Richtlinien und Verfahren). Das Kind wird ermutigt, seine Äußerungen in kontrollierterer Form zu wiederholen. Nach Alms Theorie ist das laterale System dominanter, wenn die Bewegung bewusst kontrolliert wird. (Alm 2004) Die Frage ist, ob das plastische Potenzial des Gehirns hier genutzt werden kann. Kann eine direkte Intervention durch das Lidcombe-Programm zu einer verbesserten langfristigen Geläufigkeit beitragen?

Es wurden mehrere Studien zur Wirksamkeit des Lidcome-Programms durchgeführt, mit unterschiedlichem Grad an Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit. Eine der interessantesten Studien sollte jedoch in Betracht gezogen werden. Die Studie, die randomisiert und kontrolliert durchgeführt wurde, basierte auf einer beträchtlichen Anzahl von Kindern, die im Alter von 3 bis 6 Jahren stotterten (Randomxed Control Trials). Die Studie bestand aus zwei Gruppen, von denen eine eine Intervention durch das Lidcombe-Programm erhielt. Die Gruppen wurden anschließend verglichen, und die Ergebnisse zeigten einen signifikanten Unterschied (Jones et al., 2005)

Wir sind der Meinung, dass es wichtig ist, die Behandlung in einem frühen Alter zu untersuchen und einzuleiten. Wir hoffen, dass unsere Gedanken und Hypothesen die fachliche Reflexion und Diskussion sowohl in der Sprachpathologie als auch in der Medizin vorantreiben können. Wir glauben, dass eine engere interdisziplinäre Zusammenarbeit und mehr Forschung zu einem besseren Verständnis des Stotterns beitragen können. Unser Ziel ist es, eine stärker evidenzbasierte, wissenschaftlich verankerte Behandlung anzubieten. Unser grundlegendes Ziel ist es, Patienten, die stottern, die beste und effektivste Therapie anzubieten.

Referanser:

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