Vergleichende Embryologie ohne Mikroskop: Mit genomischen Ansätzen die Evolution der Entwicklung verstehen

Obwohl diese Analysen auf Genomebene erste Einblicke in die Wirkung der Selektion während der Entwicklung liefern, steht dieser Ansatz vor mehreren Herausforderungen. Eine davon ist, dass die Expression vieler regulatorischer Gene während der Entwicklung ansteigt, während die „Housekeeping“-Gene eher konstant sind. Infolgedessen kann es so aussehen, als ob die frühe Entwicklung reich an „Housekeeping“-Genen ist, die beispielsweise für die Mitose benötigt werden. Es ist nicht überraschend, dass Housekeeping-Gene in hohem Maße konserviert sind; dies kann zu einem irreführenden Bild der Konservierung in der sehr frühen Entwicklung führen, wie eine Studie gezeigt hat. In ähnlicher Weise kann die Nichtberücksichtigung von testis-spezifischen Genen zu einem falschen Eindruck führen, da die positive Selektion auf diese Gene wahrscheinlich eher durch Spermienkonkurrenz als durch stadienspezifische Unterschiede in der Selektion an sich angetrieben wird.

Veröffentlichte Studien haben Arten mit relativ ähnlicher Ökologie und Lebensgeschichte betrachtet, eine Einschränkung, die sich aus der Tatsache ergibt, dass die aktuellen Genomprojekte für Modellorganismen eine begrenzte phylogenetische Verteilung abdecken. Es ist jedoch seit langem klar, dass die frühe Entwicklung selbst bei eng verwandten Arten sehr unterschiedlich verlaufen kann. Das Verständnis dieser Ausnahmen von der Erhaltung der frühen Entwicklung stellt eine wichtige Herausforderung dar. Fälle extremer Divergenz in der Frühentwicklung werden im Allgemeinen als Anpassungen interpretiert, die auf Veränderungen in der Lebensgeschichte zurückzuführen sind, wie z. B. Veränderungen in der embryonalen Ernährung, veränderte Ausbreitungs- und Verteidigungsmechanismen der Larven oder Veränderungen in der embryonalen Umwelt. Die Untersuchung der Frage, wie Umweltfaktoren die Evolution der frühen Entwicklung vorantreiben, ist jetzt möglich, da neue Technologien Sequenz- und Expressionsdaten auf Genomebene von praktisch jedem Organismus in Reichweite bringen. Ein möglicher Ansatz ist der Vergleich von Arten mit unterschiedlichen Lebensgeschichten oder unterschiedlichen Lebensräumen (Abbildung 2). Parallele Veränderungen in der Entwicklungsdivergenz und -erhaltung entlang von Zweigen, die zu evolutionär abgeleiteten Lebensgeschichten führen, können ein tieferes Verständnis der Rolle vermitteln, die die Anpassung bei der Gestaltung der Entwicklung spielt.

Abbildung 2

Untersuchung der Auswirkungen von Veränderungen der Lebensgeschichte auf die Entwicklung. Die Linien in Rot zeigen zwei unabhängige Verschiebungen hin zu einer lecithotrophen Entwicklung (bei der die Larve nicht frisst und daher eine viel einfachere Morphologie aufweist) bei den echinoiden Seeigeln als Folge der Zunahme der mütterlichen Beiträge. Durch den Vergleich konvergenter Veränderungen entlang der roten Linien mit denen entlang der schwarzen Linien erhalten wir einen Eindruck davon, wie Veränderungen des mütterlichen Beitrags die Evolution der Entwicklung auf genetischer Ebene beeinflussen.

Eine weitere wichtige Herausforderung ergibt sich aus der Tatsache, dass die natürliche Selektion sowohl auf nicht codierende als auch auf codierende Sequenzen wirken kann. In der Tat sind es die nicht-kodierenden regulatorischen Sequenzen um jedes Gen herum, von denen man erwarten könnte, dass sie einen wichtigen Teil der genetischen Grundlage für die Divergenz in der Expression zwischen den Arten bilden. Alle bisher veröffentlichten Studien haben die Selektion auf kodierende Sequenzen mit der Genexpression über den Lebenszyklus hinweg verglichen. Inzwischen gibt es Methoden, um die Selektion in nicht kodierenden Sequenzen zu testen, was die Tür zu Analysen öffnet, die die Selektion auf regulatorische Elemente einbeziehen. Dies könnte zu Erkenntnissen führen, die bei Analysen, die nur kodierende Sequenzen berücksichtigen, möglicherweise übersehen werden.

Es sind aufregende Zeiten für Evolutionsbiologen, da Datensätze im Genom-Maßstab auf ein immer breiteres Spektrum von Problemen angewendet werden. Zu verstehen, wie und warum die natürliche Selektion in der Entwicklung unterschiedlich wirkt, ist einer der ersten Fälle, in denen Sequenz- und Funktionsvergleiche im gesamten Genom zusammengeführt wurden, um ein klassisches Problem der Evolutionsbiologie zu lösen. Die bisher durchgeführten Studien zeigen einige faszinierende Trends auf, insbesondere hinsichtlich der möglichen Auswirkungen von Veränderungen der Genexpression während der frühen Entwicklung. Doch dies ist erst der Anfang. Obwohl es noch einige heikle technische Probleme gibt, die gelöst werden müssen, liegt das eigentliche Versprechen in der Anwendung von Daten auf Genomebene auf eine viel breitere Palette von Artenkontrasten. Wie verändert sich die genomweite Verteilung der Selektion in der Entwicklung, wenn eng verwandte Arten sehr unterschiedliche Lebensräume bewohnen oder sich in ihrer Lebensgeschichte deutlich unterscheiden? Eine breitere Palette von Artenvergleichen könnte eines der ältesten Rätsel der evolutionären Entwicklungsbiologie lösen: warum die Entwicklung so oft über große phylogenetische Klüfte hinweg konserviert wird und dennoch manchmal spektakulär zwischen eng verwandten Arten divergiert.

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