Kommentar zu Epheser 4,1-16

Dieser Abschnitt bildet das Scharnier zwischen der theologischen Aussage von Epheser 1-3 und den folgenden Ermahnungen (4,17-6,20).

Er liefert eine theologische Begründung für das Verhalten, das von der Gemeinde verlangt wird.

Der primäre Aufruf ist die Einheit. Die Empfänger des Briefes sollen sich bemühen, „die Einheit des Geistes zu wahren durch das Band des Friedens“ (4,3). Sie sollen die Heiligen für den Dienst ausrüsten, „bis wir alle zur Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen“ (4,13). Die siebenmalige Verwendung des Wortes „eins“ (4,4-6) bildet das Zentrum einer poetischen Aussage über die Einheit der Kirche. Die Aufzählung gipfelt in der Einheit Gottes. So wie in früheren Teilen des Epheserbriefes Gott als die Quelle der Identität der Kirche identifiziert wurde (vgl. 1,3-8), so spiegelt hier die Einheit der Kirche die Einheit Gottes wider.

Im Griechischen beginnt auch Vers 7 mit dem Wort „eins“. In der englischen Übersetzung ist es nicht möglich, die Parallele beizubehalten. „Und jedem von uns wurde Gnade zuteil“ ist eine Möglichkeit, sich die Parallele des Griechischen vorzustellen. Im Anschluss an die Verse 4-6 bringt Vers 7 den Begriff der Einheit zurück zur individuellen Erfahrung – jeder von uns. Die Erfahrung des Gläubigen mit Gottes Gnade bezieht sich auf das größere Ziel der Einheit des Leibes.

Die Einheit der Kirche ist ein Spiegelbild von Gottes Geschenk der Versöhnung in Christus. Das einleitende „deshalb“ (4,1) zeigt an, dass die Argumentation hier logisch aus den vorangegangenen Versen folgt. In Epheser 1-3 hat der Autor die Versöhnung zwischen Juden und Heiden, die Gott in Christus herbeigeführt hat, näher erläutert. Die wiederholte Verwendung des Wortes „eins“ in 2,14-16 (wie auch in 4,4-8) unterstreicht diesen Aspekt der Botschaft: Die Kirche ist „eine neue Menschheit“, die von Christus geschaffen wurde. Das Geheimnis des Glaubens (vgl. 3,9) besteht darin, dass Gott durch den einen Leib Jesu zwei ungleiche Gruppen unter einem Heilsplan zusammengeführt hat. Obwohl sowohl Juden als auch Heiden einst nach dem Fleisch lebten (2,3), waren die Juden Gott doch „nahe“, während die Heiden „fern“ waren (2,17). Durch Christus sind nun beide Gruppen miteinander verbunden und nähern sich Gott. Der Verfasser verwendet zwei Metaphern, um diese Verbindung und die daraus resultierende Nähe zu Gott auszudrücken: Juden und Heiden bilden einen Leib mit Christus als Haupt (1,22-23) und einen Bau mit Christus als Eckstein (2,21-22).

Die Kirche soll diese Einheit widerspiegeln. Der Autor macht jedoch deutlich, dass die Vollkommenheit der Kirche ein Prozess und kein abgeschlossenes Ereignis ist. Christus hat die Gemeinde mit Gaben ausgestattet (4:7, 11), damit die Gemeinde als Leib Christi zur Reife gelangen kann. Die Metapher des Leibes in den Versen 12-16 ist interessant: Die Kirche wird als in ihren eigenen Leib hineinwachsend dargestellt. Christus ist bereits „reif“ (Vers 13; das Griechische, das in der NRSV mit „Reife“ übersetzt wird, ist wörtlich „der vollständige Mensch“). Doch die Gemeinde, die der Leib Christi ist, muss den Leib aufbauen, bis er die Gestalt Christi erreicht hat (Vers 13). Auch in den Versen 14-15 wird das Bild des Leibes heraufbeschworen, der seinem Haupt, Christus, entgegenwächst. Nach Ansicht des Autors ist die Kirche bereits der Leib Christi, auch wenn sie weiter auf Christus zuwächst.

Die Aufzählung der Ämter in 4,11-13 stellt für viele Ausleger ein theologisches Problem dar. In diesen Versen scheinen die von Christus gegebenen Gaben mit verschiedenen Leitern identifiziert zu werden, deren Aufgabe es ist, alle Heiligen zu unterweisen. Im Gegensatz dazu scheinen die „Gaben des Geistes“, von denen Paulus in 1. Korinther 12 spricht, Gaben zu sein, die jeder Gläubige besitzen und zum Wohl des Leibes einsetzen kann (vgl. 1. Korinther 12,4-11). Für viele Leserinnen und Leser mag der entsprechende Text in 1. Korinther attraktiver sein, weil die ganze Kirche gleichermaßen an den Gaben Gottes teilhat. Hier scheinen die Gaben ausschließlich den Gemeindeleitern zu gehören – oder genauer gesagt, die Gaben sind die Gemeindeleiter.

Es ist jedoch auch möglich, 4,11-13 als Anerkennung zu lesen, dass gute Leiter für die Einheit der Gemeinde notwendig sind. An anderer Stelle ist der Autor bereits davon ausgegangen, dass Gott jedem Gläubigen die Gnade als Geschenk gegeben hat (4,7; vgl. 1,3-6). Dennoch sind bestimmte Menschen in besonderer Weise für den Aufbau des Leibes begabt, und das ist eine Gabe der Gnade Gottes. Die Sprache hier verlangt keinen unkritischen Gehorsam gegenüber den Leitern, sondern versteht die Leiter als ein Geschenk Gottes, um das Wachstum des Leibes zu leiten.

Im Kontext des Epheserbriefes betrachtet, kann die Einheit, zu der die Kirche in 4,1-16 aufgerufen wird, für die heutigen Kirchen eine Herausforderung darstellen. Im ersten Jahrhundert fiel es vielen Juden und Heiden schwer, die Botschaft von der Versöhnung von Juden und Heiden anzunehmen (vgl. Galaterbrief, Apostelgeschichte 10-15). Gottes Geschenk der Versöhnung bedeutet, dass diejenigen, die als „weit entfernt“ galten, nun diejenigen sind, die von Gott gleichermaßen begabt sind. Die „trennenden Mauern“ der heutigen Kirchen könnten auch in diesem Licht gesehen werden, auch wenn in unserem Fall die Kategorien „homosexuell“ und „heterosexuell“, „schwarz“ und „weiß“, „reich“ und „arm“ oder „Männer“ und „Frauen“ relevanter wären. In ihrer Einheit sollte die Kirche die Versöhnung verkörpern, die in Christus möglich geworden ist, der „die trennende Mauer, d.h. die Feindschaft zwischen uns, niedergerissen hat“ (2,14).

Im Epheserbrief ist Einheit nicht gleichbedeutend mit Einheitlichkeit. Das Geheimnis Gottes, das in Christus offenbart wird und zur Versöhnung von Juden und Heiden führt, verwischt nicht die Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Gruppen. Vielmehr wird durch die Kirche „die Weisheit Gottes in ihrer reichen Vielfalt“ bekannt gemacht (3,10). Ein Teil des Aufrufs in 4,1-16 ist die Toleranz oder das „Miteinander-aushalten“ (4,2). Dabei wird nicht davon ausgegangen, dass alle Unterschiede verschwinden, sondern dass die Kirche auch bei fortbestehenden Unterschieden als ein Leib zusammenwachsen kann.

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